Carter
1972
Der Titel seiner ersten Einzelausstellung in Mitteleuropa klingt wie eine lapidare, biographische Randnotiz: CARTER 1972. Seinen bürgerlichen Vornamen will der New Yorker Künstler nicht veröffentlicht wissen und ebenso wenig ist die unter Anführungszeichen gesetzte Jahresangabe sein Geburtsdatum oder das Entstehungsjahr der in der Ausstellung gezeigten Werke. Sein Spiel mitFakten und Fiktionen ist nicht als eine Suche nach der Entgrenzung eines eindeutigen Autorenbegriffsund ein Aufgehen in ein nach überindividuellen Praktiken strebendes anonymes Künstlerkollektiv zu verstehen, einer Methode, die in den letzten Jahren zunehmend in der Kunstszene konstatiert wird. Im Gegenteil: Carters künstlerische Handschrift erscheint extrem charakteristisch und individuell, subtile Variationen sich ständig wiederholender Farben, Formen und Gestaltungsmittel durchziehen manisch sein gesamtes Schaffen.
Auf großformatigen Papier- oder Leinwandcollagen werden Umrisszeichnungen menschlicher Körperfragmente und physiognomischer Charakteristika wie Köpfe, Augen, Ohren oder Hände aufgebracht und geometrischen Mustern gegenübergestellt, die an Landschaftsformen oder Zellstrukturen erinnern. Handgefertigtes, marmorisiertes Papier wird einerseits als abstrakter Hintergrund eingesetzt, andererseits dient es als Visualisierung von Haaren. Sie verleihen den schwebend erscheinenden Köpfen individuelle Frisuren, eine Art Maske, hinter der Augen hervorzublicken scheinen oder verdecken sie mitunter komplett. Haare – oft auch synthetische Haare, die direkt auf der Leinwand verteilt werden – erscheinen neben Körperteilen als artifizielle Versatzstücke menschlicher Identitätskonstruktionen. In der Fragmentierung, der Gegenüber- und Zusammensetzung entmenschlichter Formen verweist Carter auf den ständigen Wandel psychischer Identität und deren Abhängigkeit von sozialen, kulturellen oder politischen Verhältnissen. Identität stellt keine eindeutige Essenz dar, ist stets vielschichtig und konstruiert sich in einem Spannungsfeld von Abgrenzung und Anpassung, von Individualität und Uniformität, Anonymität und Öffentlichkeit.
Der Mensch, seine Wesensmerkmale sowie die Bildung seiner individuellen Persönlichkeit als Prozess einer subjektiven Innenschau und Konstruktion aus Fremdbestimmung und Zuschreibung, steht im Mittelpunkt von Carters gesamten künstlerischen Schaffen. Nicht die reine Vorstellungskraft ist Ausgangspunkt seiner Bildfindung, sondern intensive Körperstudien an Schaufensterpuppen, Skulpturen oder Photographien. Selbst bereits Produkte eines künstlichen Transformationsprozesses und nie Realität selbst, legt Carter in seiner Methodik nicht nur den Illusions- und Repräsentationscharakter von Malerei, Skulptur und Photographie frei, sondern verweist auch darauf, dass alles was mit geschlechtlicher, sexueller oder sozialer Identität zu tun hat, nicht naturgegeben, sondern selbst wieder Erscheinung und Produkt eines sozialen und kulturellen Konstruktionsprozesses ist.
Seine uniformen, lebensgroßen Männerbüsten aus Ton und Gips, marginal individualisiert durch Frisuren, Bärte und Augenbrauen aus aufgeklebten synthetischen Haaren, scheinen aus verschiedenfarbigen Glasaugen starr auf eine längst nicht mehr utopische Klonzukunft zu blicken. Oft arrangiert Carter seine unheimlich wirkenden Skulpturen zu Gruppen und verweist in Titel wie Likeness (bust #10 and #13) darauf, dass sich die Erfahrung von Einzigartigkeit, die Selbstkonstruktion des „Ich“ nur in der Unterscheidung und im Vergleich mit dem „Wir“, der Erfahrung vom Teil am Ganzen konstruieren kann. Bezeichnungen wie 1949, Self Portrait as a Homosexual, 1965, 1970 können einerseits als offenes Bekenntnis sexueller Orientierung, andererseits als Anspielung auf einen Zeitpunkt in der Kunstgeschichte gelesen werden, an dem Queer- und Genderstudies Eingang in den kritischen Diskurs gefunden haben.
Andy Warhol stilisierte sich mit unterschiedlichen Perücken, Verkleidungen und exzentrischer Manier zu einer Ikone der Queer Community, deren Theorie davon ausgeht, dass in der individualistischen Selbstdefinition die einzig gültige „Identitätserklärung“ liegt. In seiner kritischen Hinterfragung von Identitätskonstruktion, Rollenbildern, Körperlichkeit und Sexualität, sowie in der dekonstruktivistischen Methode nach dem Ausgeschlossenen zu fragen und sich selbst durch Inklusion des Außenstehenden zu erweitern, war Warhol impulsgebend für eine ganze Generation.
Carters Polaroidserien können als eine offene Anspielung an das berühmte Vorbild gedeutet werden, der als einer der ersten Künstler mit der Sofortbildkamera experimentierte und sie als künstlerisches Medium einsetzte. Im Sinne der Pop Art nutzte Warhol verbreitete Techniken wie Fotoautomaten oder Polaroids, um sich selbst, berühmte Persönlichkeiten oder Drag Queens in Szene zu setzen. Stand damals die Faszination am massenhaft verfügbaren und technisch leicht handhabbaren Produktionsmittel im Mittelpunkt, das in seiner Transformation vom alltäglichen in den künstlerischen Zusammenhang auch kritische Fragestellungen um die Fetischisierung der Waren provozierte, interessiert im Zeitalter von digitaler Bildgenese und -reproduktion der Originalcharakter des Sofortbilds, das sich herkömmlicher fotografischer Vervielfältigung entzieht und durch seine besondere Farbigkeit und Textur sinnliche Qualitäten offenbart. Wenn Carter seine Gliedmaßen gegen Plastikattrappen ersetzt und sich auf diese Weise eingeschränkt beim Ausführen alltäglicher Handlungen, wie Zeichnen, Malen oder Kleben abbildet, verweist er auf die brüchige Konstruktion von Realität und deren Repräsentation. Weder ist Photographie geeignet ein „wahres“ Abbild von Realität zu liefern noch ist der menschliche Körper als rein natürliche Sphäre zu verstehen, sondern haben plastische Chirurgie und übertriebener Schönheitswahn mittlerweile dazu beigetragen, den Umgang mit der eigenen Physis ins Artifizielle zu pervertieren.
Text: Fiona Liewehr
Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog mit einem Interview von Matthew Higgs und einem Essay von Fiona Liewehr im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln.
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