Henri Chopin
Lutte Poétique
Henri Chopin (1922-2008) war ein visionärer Künstler, dessen reichhaltiges und vielseitiges Schaffen Ausstellungen, Tonaufnahmen und zahlreiche öffentliche Auftritte umfasste. Als Teilnehmer an der documenta 8, Herausgeber (OU Review 1964-74), konkreter Dichter und Lautpoesiekünstler gehörte Chopin zur literarischen und künstlerischen Avantgarde seiner Zeit. Aber Chopins Kunst der körperlichen Intuition beschränkte sich nicht auf Druckbild, Collage und improvisierte Performances; in den 1990ern entstanden totemische Skulpturen, in denen er Reste von Tonbandspulen verarbeitete, die Aufnahmen seiner Performances beinhalteten oder ihrer Modulierung gedient hatten. Mit ihren Holzsockeln und vertikalen Stäben sind sie Stellvertreter des menschlichen Körpers und Meilensteine seines späten Schaffens.
Aus der Asche von Dada und Kurt Schwitters “Ursonate” stiegen im Paris der 1950er- Jahre die Klangkunst und visuelle Poesie, die in der Folge in ganz Europa Verbreitung fanden und zu deren einflussreichem Vertreter Chopin wurde. Ihr alleiniges Ziel war eine Erweiterung der Faktoren unserer Sprache und zugleich das Transzendieren des Schreibens selbst. Chopin vertrat die Ansicht, dass die Ursprache des Menschen alle bekannten Alphabete, Piktogramme und Idiographen übertrifft. Und so sollte im Nachkriegseuropa eine neue Sprache geboren werden, nicht eine der Worte, sondern eine poetische, die in der Alltagssprache gewöhnlich außer Acht gelassene Klangelemente in den Vordergrund stellte. Ihre Entwicklung umfasste die artikulierten Klänge von Worten und Buchstaben, Atemgeräusche, das Timbre gesprochener Worte und das Vibrato des Kehlkopfes.
Der Lautkünstler Chopin entfachte einen Wirbelsturm von Kräften, die zugleich losgelassen und reguliert waren; ihr Klang bildete eine äußerst eigenartige und singuläre Art des Ausdrucks, der von den Hohlräumen seines Körpers auszustrahlen schien. Diese breitgefächerten, modulierten Töne klangen im Raum nach; einmal war ein weinendes Klagen zu hören, ein andermal eine dampfende Sturzflut brennenden Aufruhrs. Stakkatorhythmen brachten Schwung hinein, dann öffneten plötzliche Brüche in den Aufnahmen fließende Übergänge mit räumlicher Dynamik. Ein Ping da, ein tiefes, heiseres Summen dort, dann die kürzeste aller Atempausen als stille Note vor einer Beschleunigung, der eine Verlangsamung folgte, und zuletzt ein Ausklingen in die Leere. In diesen bedeutungsvollen Klängen und stimmlichen Gestiken zeichnen sich die Formen und Strukturen der ungesehenen Sinne des Menschen ab. Chopin verwendet seinen Körper als ein Instrument, wie ein feingestimmtes Cello oder eine liebliche Geige. Alle Reize, die unsere inneren und äußeren Sinnesrezeptoren aufnehmen, vermitteln hörbar Variation, Ton und Farbe. Temperatur, Druck, Berührung, Schmerz, Sehen, Hören, Geschmack und Geruch sind in diesen Etüden der Sinne abstrakt impliziert. Vom Minimalistischen zum fast schon Symphonischen folgt seine Lautpoesie einem Aufbau, dem ein harmonisches Gleichgewicht eigen ist. In manchen Momenten vermittelt sie Lichteindrücke von weit entfernten Zeiten und Orten, in anderen brachte die Länge der Aufnahmen Chopin an die Grenzen seiner körperlichen Möglichkeiten. Oft mit Antonin Artaud verglichen, war er der Vulkan und das Erdbeben, deren Ausbrüche und Erschütterungen im Halbdunkel einer Black-Box-Bühne zu hören waren. Solch kraftvolle Klanggedichte setzen noch immer die Maßstäbe des Genres.
Chopins visuelle Gedichte, Bücher, Fotodokumentationen von Performances, Malerei, und skulpturale Assemblagen bilden das Herz der Ausstellung. Sie unterstreichen und verstärken die Bedeutung von Chopins Klangkunst und ihre bildliche Unmittelbarkeit zeigt uns einen Künstler, der sein Genre unter Kontrolle hat. Die rätselhaften Notationen in seinen maschinengeschrieben Formen entwickeln auf der formalen Ebene ein Vokabular und eine Ästhetik. Buchstabenreihen verbinden sich und zersplittern, die konkretisierte Form dominiert das Blatt, auf dem jeder Buchstabe eine rationale Miniaturstruktur darstellt. Die Dynamik dieser konkreten Gedichte wurde in Drucken, Folios, Multiples, Plakaten und Ausstellungskatalogen repliziert. Sie verdeutlichen Chopins visuelle Verbindungen zu Dada, Futurismus und Fluxus, während sie gleichzeitig seine eigene Sensibilität hervorkehren. Er entwickelte eine faszinierende Art, Blöcke von Buchstaben in Abständen anzuordnen, die architektonische Geometrien mit palladianischer Symmetrie entstehen ließen. Wir dürfen ihn uns mit einem Morgenkaffee und einer brennenden Zigarette in der Hand vorstellen. Er hat sich schon an den Tisch mit der Schreibmaschine gesetzt und rattert eine Serie von Arbeiten herunter, in die er Kaffeeflecken und -filter sowie Tabaküberreste integriert und collagiert.
Als Poète maudit überlebte Chopin während des Zweiten Weltkriegs Internierungslager, Gefängnisaufenthalte und einen Todesmarsch. Und wie seine Dada-Vorfahren erreichte er das Erwachsenenalter in den Wirren des Krieges, wurde zum Opfer seiner Grausamkeit und widmete sein Leben danach einem Gegenentwurf im Rahmen seiner Kunst. Er war einer jener autonomen Heiligen des Stroms der Poesie, der ungebrochen weiterfließt. Apollinaire, Raoul Hausmann, François Dufrêne, E.E. Cummings, William Burroughs, Brion Gysin, Dom Sylvester Houédard, Dieter Roth und viele andere zählen zu seinen Brüdern. Ungebändigte oder schlecht regulierte Energien werden in dieser Leere nicht verschwendet, wie jene von an der freien Luft verbranntem Kohlenstoff oder Dämpfen, die nicht durch industrielle Apparaturen eingefangen werden. Chopin hatte eine intuitive Fähigkeit, seine inneren Energien zu regulieren und eine latente Kraft ermöglichte ihm, die Geschwindigkeit seines Instruments, des physischen Körpers zu handhaben. Darin liegt die Erinnerung an seine Leiden und Schmerzen, das Wissen von unausgesprochenem Horror, unterdrückter Wut, und dann ein Ur-Sprung über das Material hinaus, um es in einen transzendentalen Zustand zu erheben. Solche Kräfte wurden dabei in einer strahlenden Anima zusammengetrieben, die weit in den Kosmos hinausreichte und dann wieder auf festem Boden landete, auf dem Weg zu einer vertieften Menschlichkeit.
Biografie
geboren 1922 in Paris/FR
gestorben 2008 in Dereham/UK
Ausgewählte Einzelausstellungen
2019
Lutte Poétique, Georg Kargl Fine Arts, Wien
2017
Graphpoemachines, at Supportico Lopez, Berlin
Henri Chopin: From Concrete to Liquid to Spoken Worlds to the Word (retrospective), Centre
d'Art Contemporain, Genf
2014
Henri Chopin – Dans L’Essex, Firstsite, Colchester
2013
Gratte Ciel Hors Commerce, New Jerseyy, Basel
L’Énergie Du Sommeil, 1M3, Lausanne
La Crevette Amoureuse, Supportico Lopez, Berlin
2012
Revue OU – Cinquième Saison: An Anthology of Sound Poetry, Argos, Brüssel
OU OU OU: Henri Chopin and Revue OU, Summerhall, Edinburgh
2011
Henri Chopin and the OU Magazine, Fundação de Serralves Porto
Neonlicht#1 – Henri Chopin in het archief Paul De Vree, M HKA, Antwerpen
2010
In Neapel, Supportico Lopez Gallery, Berlin
HENRI CHOPIN, Supportico Lopez Gallery, Berlin
2008
Henri Chopin, Three Minutes, Cubitt Gallery, London
2005
LES FILTRES DE L’ ALPHABET ET DE L’€, Fondazione Morra, Neapel
1998
Henri Chopin, Sonic Memory, Norwich Gallery, Norwich
1993
Henri Chopin: Revue OU, Collection OU, Neues Museum Weserburg, Bremen
1991
Assessorato alIa Cultura, Rom
1989
Galerie Le Lieu, Québec
Galerie Krief, Paris
1988
Galerie Convergence, Nantes
1987
Galerie J & J Donguy, Paris
Galerie Brigitte Schehadé, Paris
1985
Galerie Hundertmark, Köln
1984
Third Eye Centre, Glasgow
1983
Henri Chopin: Revue OU, Collection OU, Neues Museum Weserburg, Bremen
Centre Pompidou, Paris
Anzart in Hobart, Tasmanien
1979
Poesia Sonora, Studio Santandrea, Milan
Palais Jacques Coeur, Bourges
Jordan Gallery, London
1975
Greenwich Theatre Gallery, London
Galeria Akumulatory, Poznan
1974
Henri Chopin: Ideas Gallery, Whitechapel Art Gallery, London
1972
Ceolfrith 18: Henri Chopin, Ceolfrith Arts Centre, Sunderland
1968
Fulham Gallery, London
1966
Galleria Alpha, Modena
1963
Galerie Riquelme, Paris
1962
Galerie Saint-Laurent, Brüssel
Groupe Rijklin, Bruges
Ausgewählte Gruppenausstellungen
2020
Fuckers, Galerie der Stadt Schwaz, Schwaz
2018
A Matter of Printing, Supportico Lopez, Berlin
2017
New Pleasure, mit Merlin Carpenter, Henri Chopin, George Condo, Dexter Dalwood, Latifa Echakhch, Hans-Peter Feldmann, Kim Gordon, Hilary Lloyd, Claudio Parmiggiani, Steven Parrino, Richard Prince, Matana Roberts, Alan Vega, Christopher Wool – Simon Lee Gallery, New York, NY
From the truer world of other: Typewriter Art from PAMM’s Collection, Pérez Art Museum Miami, FL
This is a Voice, Museum of Applied Arts & Science, Ultimo
Sites of Knowledge, kuratiert von Melissa Bianca Amore & William Stover, Jane Lombard Gallery, New York, NY
Integration Alone is not Enough: Selected Works of British Concrete Poetry 1960-1980, Richard Saltoun Gallery, London
2016
Poésie Balistique, mit Marcel Broodthaers, Henri Chopin, Liz Deschenes, Thomas Hirschhorn, Scott Lyall, Dora Maurer, Helen Mirra, Dominique Petitgand, Christopher Williams, Channa Horwitz und weiteren, La Verrière – Hermès Fondation Brussels
Concerning Concrete Poetry, Badischer Kunstverein, Karlsruhe
2015
Poem N°0000000000000000000000000000,9 mit Julian Beck, Adriano Costa, Lenora de Barros, Natalie Häusler, James Hoff, Karl Holmqvist, Zin Taylor, curated by Supportico Lopez, Mendes Wood DM, São Paulo
La mot et la chose, Galerie Natalie Seroussi, Paris
Collecting Lines – Drawings from the Ringier Collection, Villa Flora, Winterthur
PÊCHE DE NUIT (oh well ah well yes well) / A project of Supportico Lopez, RaebervonStenglin, Zürich
OU: UR: SOURCE, La Plaque Tournante, Berlin
2014
Go and come back, mit Julian Beck, Marco Bruzzone, Henri Chopin, J. Parker Valentine, Supportico Lopez bei Paradise Garage, Los Angeles
Der Leone Have Sept Cabeças, Crac Alsace, Altkirch
… all silent but for the buzzing …, Royal College of Art Galleries, London
2013
Revue Ou, Poesie Sonore, Poesie Ouverte, Poesie Konkret 1964-1974, Oslo 10, Münchenstein
Homes & Gardens, Freedman Fitzpatrick, Los Angeles
Poetry & Performance, mit Ida Applebroog und Gina Pane, Richard Saltoun, London
Anton Voyls Fortgang /A Void, mit Guy De Cointet und Channa Horwitz, Kunstsäle Berlin, Berlin
Vocal Folds, Gertrude Contemporary, Melbourne
Die dritte Dimension, mit Natalie Häusler, Giulio Delvé, Maria Adele Del Vecchio, Supportico Lopez bei Frutta Gallery, Rom
Anton Voyls Fortgang /A Void, mit Guy De Cointet und Channa Horwitz, Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf
2012
It’s When It’s Gone That You Really Notice It, Simone Subal Gallery, New York
Face to Face, Deakin University, Melbourne
Ecstatic Alphabet/Heaps of Language, MOMA, New York
2010
Novel, Dépendance, Brussel
2009
Poor. Old. Tired. Horse., ICA, London
1967
Henri Chopin, Julien Blaine, Francois Dufrene and HW Muller, Konzert in Musée d’art Modern de Ville de Paris
Ausgewählte Presse
2013
Astrid Mania, Henri Chopin, Supportico Lopez, Artforum, September, p. 425
Vincenzo Latronico, Henri Chopin’s “La Crevette Amoureuse”, Art Agenda, May
2012
Tim Griffin, Ecstatic Alphabets / Heaps of Language, Artforum, December, pp.238-241
2011
Why I am the author of sound poetry and free poetry, Nero, No. 27, Autumn, pp.59-66
2009
Limitless Voice(s), Intensive Bodies: Henri Chopin’s Poetics of Expansion, Mosaic, Vol. 42, No. 2
1983
Nicholas Zurbrugg, The Limitations of Letterisme: An Interview with Henri Chopin, Visible
Ausgewählte Publikationen
2015
En Guises d’Autobiographie Forcément Incomplète, Lemon Melon & Richard Saltoun Gallery, London
2014
Henri Chopin, De la Démocratie / Of Democracy, Motto Books & Supportico Lopez, Berlin
2013
Anton Voyls Fortgang/A Void, Henri Chopin, Guy De Cointet and Channa Horwitz, Spector Books, pp. 27-29, Leipzig
2008
Ed. Giannantonio Morghen, Henri Chopin, Espace Frémissant, Associazione Renzo Cortina, Milan
2007
Le Cahier du Refuge 162, Centre International de Poésie, Marseille
2006
Graphpoemesmechine, Zero Gravità, Biella
2002
J’ose! – défier, Archivio F. Conz, Verona
2001
Panorama, Ottezec Editions, Geneva
1994
Hors-l’or (Appel à L’orage de L’oral), Cahiers de nuit, Caen
1993
Ed. Richard Meyer, - & +, Voix Editions, Montigny
1992
NAISSANCE REELLE (clartés de la poésie sonore), Berenice Editions, Rome
Les Hippocampes Noirs, Agius Editions, Geneva
Ed. Henri Chopin and Paul Zumthor, Les Riches Heures de l’Alphabet, Edition Traversière, Paris
Ed. Nicholas Zurbrugg and Marlene Hall, Henri Chopin, Queensland College of Art Gallery
1991
Alphabet pour Gratte-Ciel, Galerie Jordan Editions, Paris
L'esperluette et Ie Couillard (Légende), Atelier d'art LP Rougier Editions, Ivry-sur-Seine
Poème Froufroutant Électronique, Lô "Ie bibelot" Editions, Verson
1990
Squelette du Verbe et Alentour, B.G. Lafabrie Editions, Paris
Graphèmes en Vibrance, Petit Classique du Grand Pirate Editions, Chelles
Mil 1000 Mille Dates, Guy Schraenen Editions, Antwerp
Squelette du verbe et alentour, B.G. Lafabrie Editions, Paris
1987
Petit Livre des Riches Heures Signistes et Sonores, J & J Donguy Editions, Paris
Passementeries, Ottezec Editions, Nîmes
Henri Chopin, Galerie Brigitte Schéhadé, Paris
1986
Ray to the Rays, Francesco Conz, Verona
1985
La Conference de Yalta, Edizioni Morra, Naples
1984
Enluminures, Edizioni Morra, Naples
The Last Book of the Rich Alphabetical Hours of the Chopins, Third Eye Centre, Glasgow
1982
Concerto en Zhopin Mineur, Artista, Paris
16 Typewriter Poems, Edition Armin Hundertmark, Cologne
1980
Three Tubes, Coriander Studio, London
1979
Henri Chopin – Poésie Sonore Internationale, Jean-Michel Place Editions, Paris
1978
Portfolio Chopin, Editions Ottezec. With Cozette De Charmoy and William S. Burroughs, Geneva
1976
Henri Chopin, The Cosmographical Lobster: A Poetical Novel, Gaberbocchus Press, London
1975
À propos de OU, Revue OU/Cinquième Saison, E. Veys Editions, Tielt
Chronique 74, Revue OU/Cinquième Saison, Ingatestone
Portrait des 9 (Marche Commun), Guy Schraenen Editions, Antwerp
Signs/Signes, Ruby Editions, London
1974
Henri Chopin: Ideas Gallery. Graphics, Objects and Other Poems, Whitechapel Art Gallery, London
1972
Le Cimetière, Henry Fagne Editions, Brussels
Ceolfrith 18, Ceolfrith Press, Sunderland
1970
Le Dernier Roman du Monde, Cyanuur Editions, Brussels
Pêche de Nuit. Notes for 45rpm record in Le Dernier Roman du Monde, Editions Cyanuur, Wetteren
1969
Uncorrect poem for Henri Chopin, Openings Press, Woodchester
1967
Why I am the Author of Sound Poetry and Free Poetry, Festival de Fort Boyard, in: Revue OU 30/31, Musée d’art Moderne, Paris
1958
Ed. Tour de Feu, Chants de Nuit. Jarnac
L’arriviste, Caractères, Paris
1957
Présence, Revue Poésie Nouvelle, Paris
Regard Tota
Chants de Nuit, Tour de Feu , Jarnac
Signes, Caractères, Paris
Ausgewählte Diskografie
1994
Staccati en glissando: pour une voix humaine (radiophonic music)
Henri Chopin, les 9 saintes-phonies: a retrospective
1979
Les Chuitantes Respirant
1973
You Vetigo Vertige
1972
Poésie Sonore, S Press
1971
Audiopoems, Tangent Records, UK
Anfrage
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