Matthias Bitzer
Les visages de la Mademoiselle Demimonde
Die Kombination von Unsichtbarem und Realem ist ein Thema des Symbolismus. In einer Neusichtung der Klassischen Moderne kombiniert Matthias Bitzer Portraits und geometrische Konstruktionen in Zeichnungen, Gemälden und Skulpturen. Diese scheinen einer melancholischen Träumerei zu verfallen, in Wahrheit jedoch veranschaulichen sie den Übergang von Gegenstand und Raum als Malerei und fungieren darüber hinaus als Schnittstelle zwischen dem Dekor des Konstruktiven, einem schmückendem Aspekt und einer gebrochenen Strenge gegenüber dem formalen Aspekt des Materials. Er selber hat einmal von decodierter Realität gesprochen.
In den neuen Arbeiten zu „Les visages de la Mademoiselle Demimonde“ führt eine Transzendenz im Farbauftrag zur subjektiven Verschleierung des abstrakt Konkreten. Die Werke zu dieser als Serie (und womöglich als Trilogie) angelegten Ausstellung beziehen sich auf Emmy Ball-Hennings (1885-1948), Schauspielerin, Dichterin, Prostituierte, Muse, Modell und Mitbegründerin des Dadaismus. Dieses Zusammenspiel sorgt für eben jene Neubetrachtung von Modernität im Blick von der Gegenwart auf die Zukunft als ein unvollendeter Prozess. Die Vermischung von Fiktion und Realität, wie sie sich eindrucksvoll in Ball-Hennings oft autobiografischen Schriften äußert, die von Erfindungen und Hinzufügungen durchwoben sind, erfährt eine visuelle Entsprechung. Jedoch ist die multiple Identität, die Vielfachheit ihrer Person mehr ein psychologischer Sachverhalt, der aus der Zeitkorrelation herausgelöst ist und keinesfalls einer biografischen Wiedergabe dient.
Bitzer bezieht sich in seinen Arbeiten häufig auf historische, in Außenseiterpositionen geratene Personen, denen er eine ikonenhafte Präsenz zugesteht, um die Psychologie jener Protagonisten auf der Oberfläche ambivalent zu halten und etwas magisch-mystisches zwischen den Dingen zu manifestieren. Die vorgelagerten oder untergeschobenen Zersplitterungen, Schnitte, Kurvaturen, Schichtungen oder Zerfaserungen, wie in der aus Schellack entwickelten Skulptur, im Wechsel mit der entkörperlichten, engel- bis geisterhaften Präsenz Emmy Ball-Hennings betonen dies. Eine mitunter handwerklich unperfekte Ausführung und die Verwendung rohen Nessels ist als menschliches Maß und Korrektiv entgegen eines unterstellbaren konzeptionellen Ansatzes latent evident.
Matthias Bitzer geht es in der Umkehrung der Prinzipien der Moderne – des Verfalls der alten Formen im Sinne des Ikonoklasmus – um die existenzielle Frage nach der Konstruktion von Identität. Woraus entsteht Identität? Was passiert, wenn ein Mensch die Biografie eines anderen lebt, wenn man sich verschiedener Masken bedient? „Les visages de la Mademoiselle Demimonde“, der Ehefrau Hugo Balls, zeugen in der Ausstellung von Matthias Bitzer von der Faszination von abstrakter und figurativer Darstellung in Kunst, Gesellschaft und Natur. Durch das Herauslösen und neu Kombinieren von Versatzstücken wird der kulturelle Raum- und Zeitzusammenhang aufgelöst.
Ursprung der geometrischen Formensprache war u.a. die rationale Strömung des italienischen Futurismus, speziell bei Giacomo Balla. Die Rolle der Frau im Futurismus vor dem Hintergrund der Emotionalität ist ein wiederkehrendes Thema in Bitzers Arbeiten. Was ist das Wesen der Bilder?, scheint Emmy zu fragen. In den Blüten des seltenen Kaktus, der nur einmal als „Königin der Nacht“ in seinem Leben blüht, erkennen wir den Tod, nicht seinen, sondern den der Kunst, die mit Adorno hofft, dadurch zu überleben. Unnötig zu sagen, dass es den Kaktus so nicht gibt. Unbestimmtheit ja, dennoch sieht diese meist anders aus, weniger fiktiv und weniger schön, mit den Worten von Matthias Bitzer – im geometrischen Umfeld: I used her skin as my skin to walk through the fire!
Gregor Jansen
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