Julia Scher
Wonderland
[…] Es ist nur zu schlüssig, dass sich Scher, deren Kunst sich um das Anziehende und Abstoßende an der Schaulust und die sich immer noch weiter ausbreitende Überwachung der Gesellschaft dreht, des Themas der überbefürsorgten kleinen Mädchen annehmen sollte. […] In diesem Wunderland herrscht ein unzweideutiger Humor, der die Aufmerksamkeit des Publikums von den Scherzchen eines angeblichen Fotografen namens Lewis Carroll auf die brillante Logik und die Sprachspiele von Charles Dodgson lenkt,(1) dessen Intelligenz und Verspieltheit diese […] Installation geradezu durchdringt.
„Alice“ wird hier von drei großen Farbabzügen androgyner Jungen und Mädchen in süßlich rosaroten Kostümen dargestellt. Diese achtsamen, wachsamen Kinder umgeben den Betrachter von drei Seiten. Still starren sie von den Wänden mit Videokameras und anderen elektronischen Geräten in Händen. Sie beherrschen ein kompliziertes Zentralnervensystem aus Computerkabeln und Leitungen und Verteilern, die sich über die Böden und die Decken der Galerie schlängeln. Da und dort sind diese mit dünnen Stoffschleifen zusammengebunden. Scher schafft so nicht einfach ein weiteres Schaubild verletzter Unschuld, sondern stellt diese Kinder als boshafte Museumskuratoren dar, die zugleich sammeln, aufzeichnen und die Gegenstände im Wunderland neu ordnen.
Die rosaroten Uniformen, die Scher den Kindern auf den Fotos anzieht, deuten an, dass diese in den von Erwachsenen vorgefertigten Begriffen von „Unschuld“ und Kinderidentität gefangen sind. Die Mützen und Leibchen, die die Kinder eigentlich anhatten, liegen ordentlich gefaltet in der Nähe der Computer, die in der Mitte des Raums eine runde Lagune bilden. Man bekommt den Eindruck, als wären die erzwungenen Identitäten an der Grenze des Informationspools abgelegt worden, so wie Kinder früher einmal ihre Kleider liegen ließen, bevor sie im Teich gegenüber schwimmen gingen.
Durch die Verwendung von Überwachungskameras und Internet zeigt Scher, wie sich die formbare Natur von Identität in der ursprünglichen Alice-Geschichte in der wandelbaren Persönlichkeit im Informationszeitalter widerspiegelt. Charles Dodgson schuf eine Welt, in der die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen umgekehrt werden konnte – eine Idee, die den Wunsch ausdrückt, dass kleine Mädchen für immer das Land der Kindheit bewohnen, anstatt erwachsen und durch die Sexualität verkompliziert zu werden. Schers Untersuchungen der Online-Identität haben sie zur Entdeckung geführt, dass „Identität vom User definiert werden kann. Ich kann einen Jungen spielen und mich wie einer verhalten, ich kann mich permanent wandeln.“ […]
(1) Charles Lutwidge Dodgson (27. Januar 1832–14. Januar 1898), bekannter unter seinem Pseudonym Lewis Carroll, war ein britischer Autor, Mathematiker, Logiker, anglikanischer Geistlicher und Fotograf. Eine seiner berühmtesten Schriften ist Alice im Wunderland.
Theresa Duncan, „Julia Scher’s Wonderland“, in: Artbyte, Oktober/November 1998, S. 40f.
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