Rudolf Stingel
Um über die neue Installation von Rudolf Stingel schreiben zu können, muss man zuerst die speziellen architektonischen Merkmale der Galerie beschreiben, in der sie gemacht wurde: Es handelt sich nicht um den normalen White Cube, sondern um eine Reihe miteinander verbundener Räume und Korridore auf drei Ebenen. Stingel überzog alle Wände der vorderen Räume, Büros und die Korridore mit einer glänzenden Aluminiumfolie der Marke Celotex Tuff-R, die als Isoliermaterial im Wohnbau eingesetzt wird. Der Künstler benutzte dieses Material erfolgreich dazu, die architektonischen Merkmale der Galerie zu unterdrücken. Er verschmolz die Wände und deren Oberflächentexturen zu einem Spiegel, der den gegebenen Raum erweiterte und verzerrte. Der spiegelnde Ton der Räume entmaterialisierte die Galerie, die sich nunmehr wie ein konstruiertes Labyrinth ausnahm. Stingels Gesamtkonzept folgt einer bekannten minimalistischen Strategie. Durch das Gleichmachen aller Raumbegrenzungen durch die Vereinfachung und Elimination von Details erzeugte er einen reinen, makellosen Eindruck.
Was nun eine echte phänomenologische Erfahrung der Ausstellung verhinderte, waren die von Stingel verwendeten Materialien, die nicht nur bei ihrem Einbau, sondern auch durch das Publikum nur allzu leicht verformt werden können. Die Galeriebesucher wurden in der Tat aufgefordert, die eben glänzenden Flächen zu bekritzeln, etwas einzuritzen oder zu verunstalten, so entstanden graffitiartige Spuren. Beim Betreten des hintersten Ausstellungsraums, in dem ausschließlich drei große „Gemälde“ an den Wänden hingen, drehte sich die Situation für den Betrachter plötzlich um. Stingel verwendete nämlich offenbar „recycelte“ Elemente von früheren Installationen als Ausgangsobjekte für diese neuen Originale. Jetzt wurde klar, dass die Materialität der Oberflächen das Hauptanliegen des Künstlers ist und nicht ausschließlich der In-situ-Aspekt der Galerienarchitektur. So gelingt es ihm das subjektive Element des Publikums zu erstarren und im erstarrten Zustand wiederzugeben und so die Urheberschaft der Arbeiten zu hinterfragen. Zugleich erklärt er sie für sakrosankt, indem er bestimmte als fertig oder perfekt angenommene Ausschnitte rahmt. Beim Zurückgehen durch die Installation zum Galerieausgang fühlte man sich unweigerlich irgendwie manipuliert. Und die architektonische Illusion, die ursprünglich so packend schien, brach vor den eigenen Augen in sich zusammen.
Michael Hall, in: tema celeste, 93/2002, S. 103
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